Von Carolin Meyer
Februar 2024
Februar 2024
Ferdinand von Schirach ist von der Bühne der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nicht mehr wegzudenken. Im August hat er einen neuen Text veröffentlicht. Penguin kündigte via Instagram zunächst die Publikation von Schirachs neuem ›Drama‹ an; wenig später folgte dann die offizielle Korrektur, es handle sich vielmehr um einen ›Theatermonolog‹. In anderen sozialen Medien war die Rede von einer Bühnenrede, von einfach nur einem Theaterstück oder nur einem Erzähltext. Es zeigte sich schnell – der Text ist ein Topf, auf den eigentlich kein theoretischer Gattungsdeckel passt. Der Untertitel-Angabe folgend ist er eine Liebeserklärung. Und das reicht: präzise Unschärfe, der Titel wird dem Text gerecht.
Man könnte so weit gehen zu sagen, dass die Veröffentlichung des Textes ein mediales Chaos war. Die Veröffentlichung des Textes an sich verlief aufreibend, noch viel aufreibender aber die Rezeption des Textes durch die Medien – gerade durch das Feuilleton. In gewisser Weise ist das nachvollziehbar; der erste Blick auf den Text evoziert den Aufschrei. Der Preis ist hoch, das Buch sehr dünn. Und dann scheint die Hälfte des Textes auch noch ein Interview zu sein und nur gute fünfzig Seiten ›tatsächliche‹ Literatur. Übles war zu lesen. Darüber hinaus sei das Werk schwer erträglich, traurig und depressiv. Es gehe um alles ein bisschen und um nichts so richtig.
Ja, man kann Regen als ein Konvolut halbgarer Topoi und fiktionaler Exkurse mit schwacher Hauptplotlinie lesen. Aber es gibt genug Gründe, es anders zu machen. Schirach liefert große Themen – gesellschaftlich wie individuell – und einschlagende Impulse mit einer klaren Maxime: Trennschärfe und Urteilsbildung finden nicht statt. Damit bleibt Schirach seiner eigenen literarischen Tradition treu. Er berät und bildet, enthält keine Meinung vor, aber er macht auch keine. Damit steht der Text ebenso wie sein Werk in einer klassischen Tradition, einer alten Schule, die Anker und Orientierungspunkt zwischen moderner Polemik und der mit ihr einhergehenden schnellen Urteilsbildung ist. Der Exkurscharakter des Textes widerspricht dieser Maxime nicht, er unterstreicht vielmehr die Wirkung.
Formal ist der Text ein niveauvolles, assoziativ geleitetes Brainstorming, das gerade so häufig einen roten Faden aufweist, dass er nicht gänzlich in die Haltlosigkeit wegkippt; im Prinzip ist Regen eine Ode an den schweifenden Exkurs selbst.
Das Setting ist schlicht gehalten: Der Erzähler ist Schöffe in einem Mordprozess. Noch während des Prozesses fragt er den Angeklagten, welche Strafe dieser sich selbst gebe. Im Anschluss bezichtigt die Strafverteidigung den Schöffen, befangen zu sein und schon geurteilt zu haben. Er muss eine schriftliche Erklärung abgeben. Auf dem Weg zur Erklärung macht dieser Schöffe so viele Schleifen, dass diese zur Erklärung werden. Währenddessen regnet es. Gleichzeitig ist der Erzähler auch Schriftsteller; er gibt vor, siebzehn Jahre nicht mehr geschrieben zu haben – der Text scheint sein Ausweg aus der Krise zu sein. Das Lesepublikum wird eingeladen, zum Biografieforschenden zu werden und die anhand der präsentierten Einzelsituation auserzählte Lebensgeschichte nachzuvollziehen. Eine Plausibilisierung des Verlaufs erlaubt die Erzählung, eine gänzlich schlüssige Interpretation hingegen nicht.
Inhaltlich ist die Erzählung eng angebunden an die Inhalte eines Interviews, das Ferdinand von Schirach im September 2022 mit dem Journalisten Sven Michaelsen geführt hat und das in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht worden ist. Die Autorpersönlichkeit Schirach wird somit bewusst inszeniert – und das ist ein Novum. Durch die inhaltliche Nähe von literarischem Text und Interview zueinander und aufgrund ihrer gemeinsamen Veröffentlichung im selben Gesamttext unter gleichem Titel werden Erzählinstanz und Autor in einen drängenden autofiktionalen Zusammenhang gebracht. Diese Nähe ist schriftlich fixiert im Interview und wird mündlich reproduziert in der performativen Ausgestaltung des Textes – immer dann, wenn der Text zum Theatermonolog wird und Schirach höchstpersönlich auf seiner Lesetour den Text nicht nur liest, sondern auswendig zitiert. Den vollen Text. Ohne Hilfsmittel, ohne Pausen und mit wenig Pathos. Die Live-Performance ist der Träger des Textes, er ist genau auf eine solche Bühnenperformance zugeschnitten worden.
Schirach produziert ein episches Material mit dramatischem Potenzial, zusammengesetzt aus Bildern, Anekdoten und Lebensschilderungen. Die Vielschichtigkeit ist das Kompositionsprinzip des Ich-Erzählers, der durch kluge Zeit- und Gesellschaftsbeobachtungen, aber niemals durch Diagnosen überzeugt. Schirach schafft es famos, pointiert zu formulieren. Gleichzeitig will der Text kein zweckgebundener Ratgeber sein. Zum Glück.
Auch wenn Schirach entgegen seiner sonstigen literarischen Tätigkeit keine konzise Fallschilderung und keinen konsistenten Erzählband liefert, so bleibt er sich in Sprachstil und literarischem Anspruch doch treu. Damit vereint der Autor stilistische Tradition und performative Innovation auf einer Gratwanderung zwischen Autofiktion und Lebensphilosophie, Individualbiografie und Verallgemeinerung.
Auf schieres Gefallen zielt dieser Text nicht ab, er kann für sich stehen. Durch die Live-Performance bringt er manches auf den klanglichen Punkt, nichts aber, was nicht ohnehin schon in ihm angelegt ist.
Man könnte so weit gehen zu sagen, dass die Veröffentlichung des Textes ein mediales Chaos war. Die Veröffentlichung des Textes an sich verlief aufreibend, noch viel aufreibender aber die Rezeption des Textes durch die Medien – gerade durch das Feuilleton. In gewisser Weise ist das nachvollziehbar; der erste Blick auf den Text evoziert den Aufschrei. Der Preis ist hoch, das Buch sehr dünn. Und dann scheint die Hälfte des Textes auch noch ein Interview zu sein und nur gute fünfzig Seiten ›tatsächliche‹ Literatur. Übles war zu lesen. Darüber hinaus sei das Werk schwer erträglich, traurig und depressiv. Es gehe um alles ein bisschen und um nichts so richtig.
Ja, man kann Regen als ein Konvolut halbgarer Topoi und fiktionaler Exkurse mit schwacher Hauptplotlinie lesen. Aber es gibt genug Gründe, es anders zu machen. Schirach liefert große Themen – gesellschaftlich wie individuell – und einschlagende Impulse mit einer klaren Maxime: Trennschärfe und Urteilsbildung finden nicht statt. Damit bleibt Schirach seiner eigenen literarischen Tradition treu. Er berät und bildet, enthält keine Meinung vor, aber er macht auch keine. Damit steht der Text ebenso wie sein Werk in einer klassischen Tradition, einer alten Schule, die Anker und Orientierungspunkt zwischen moderner Polemik und der mit ihr einhergehenden schnellen Urteilsbildung ist. Der Exkurscharakter des Textes widerspricht dieser Maxime nicht, er unterstreicht vielmehr die Wirkung.
Formal ist der Text ein niveauvolles, assoziativ geleitetes Brainstorming, das gerade so häufig einen roten Faden aufweist, dass er nicht gänzlich in die Haltlosigkeit wegkippt; im Prinzip ist Regen eine Ode an den schweifenden Exkurs selbst.
Das Setting ist schlicht gehalten: Der Erzähler ist Schöffe in einem Mordprozess. Noch während des Prozesses fragt er den Angeklagten, welche Strafe dieser sich selbst gebe. Im Anschluss bezichtigt die Strafverteidigung den Schöffen, befangen zu sein und schon geurteilt zu haben. Er muss eine schriftliche Erklärung abgeben. Auf dem Weg zur Erklärung macht dieser Schöffe so viele Schleifen, dass diese zur Erklärung werden. Währenddessen regnet es. Gleichzeitig ist der Erzähler auch Schriftsteller; er gibt vor, siebzehn Jahre nicht mehr geschrieben zu haben – der Text scheint sein Ausweg aus der Krise zu sein. Das Lesepublikum wird eingeladen, zum Biografieforschenden zu werden und die anhand der präsentierten Einzelsituation auserzählte Lebensgeschichte nachzuvollziehen. Eine Plausibilisierung des Verlaufs erlaubt die Erzählung, eine gänzlich schlüssige Interpretation hingegen nicht.
Inhaltlich ist die Erzählung eng angebunden an die Inhalte eines Interviews, das Ferdinand von Schirach im September 2022 mit dem Journalisten Sven Michaelsen geführt hat und das in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht worden ist. Die Autorpersönlichkeit Schirach wird somit bewusst inszeniert – und das ist ein Novum. Durch die inhaltliche Nähe von literarischem Text und Interview zueinander und aufgrund ihrer gemeinsamen Veröffentlichung im selben Gesamttext unter gleichem Titel werden Erzählinstanz und Autor in einen drängenden autofiktionalen Zusammenhang gebracht. Diese Nähe ist schriftlich fixiert im Interview und wird mündlich reproduziert in der performativen Ausgestaltung des Textes – immer dann, wenn der Text zum Theatermonolog wird und Schirach höchstpersönlich auf seiner Lesetour den Text nicht nur liest, sondern auswendig zitiert. Den vollen Text. Ohne Hilfsmittel, ohne Pausen und mit wenig Pathos. Die Live-Performance ist der Träger des Textes, er ist genau auf eine solche Bühnenperformance zugeschnitten worden.
Schirach produziert ein episches Material mit dramatischem Potenzial, zusammengesetzt aus Bildern, Anekdoten und Lebensschilderungen. Die Vielschichtigkeit ist das Kompositionsprinzip des Ich-Erzählers, der durch kluge Zeit- und Gesellschaftsbeobachtungen, aber niemals durch Diagnosen überzeugt. Schirach schafft es famos, pointiert zu formulieren. Gleichzeitig will der Text kein zweckgebundener Ratgeber sein. Zum Glück.
Auch wenn Schirach entgegen seiner sonstigen literarischen Tätigkeit keine konzise Fallschilderung und keinen konsistenten Erzählband liefert, so bleibt er sich in Sprachstil und literarischem Anspruch doch treu. Damit vereint der Autor stilistische Tradition und performative Innovation auf einer Gratwanderung zwischen Autofiktion und Lebensphilosophie, Individualbiografie und Verallgemeinerung.
Auf schieres Gefallen zielt dieser Text nicht ab, er kann für sich stehen. Durch die Live-Performance bringt er manches auf den klanglichen Punkt, nichts aber, was nicht ohnehin schon in ihm angelegt ist.
Ferdinand von Schirach: Regen. Eine Liebeserklärung.
Luchterhand, Aug. 2023
112 S., 20,- €
Luchterhand, Aug. 2023
112 S., 20,- €