Von Markus Tillmann
17.5.2022
17.5.2022
Was kann uns die Science Fiction über die Welt von heute erzählen? Diese Frage, die auch im Mittelpunkt einer literaturwissenschaftlichen Tagung stand, die am 27. März 2022 im Prinz Regent
Theater Bochum stattfand und den Titel Erzählte Zukünfte. Science Fiction und die Welt von heute trug, mag zunächst paradox
anmuten, ist doch gerade das Genre der Science Fiction (SF)
dadurch gekennzeichnet, das es Zukunfts- und Alternativwelten
entwirft. Zugleich wird die SF immer wieder als Phantasterei abgetan, die wenig bis gar keinen realen Hintergrund besitze.
Dabei überwiegt in der SF zumeist die Lust am Gedanken- spiel, am Durchprobieren neuer Möglichkeiten und an der Eröffnung neuer Möglichkeitsräume: Man könnte von einer „Was wäre wenn“-Perspektive der SF sprechen, d.h. sie operiert mit dem Antagonismus von Wirklichem und Möglichem. Gerade die in der modernen SF-Literatur entworfenen Imaginationsräume regen ganz bewusst und gezielt dazu an, über derzeitige technologische Entwicklungen und deren Folgewirkungen nachzudenken. Dies zeigte auch eine Gesprächsrunde mit Studentinnen und Studenten der RUB, die im direkten An- schluss an den Einleitungsvortrag den Einstieg in die Tagung bildete: Im Rahmen eines zweisemestrigen Hauptseminars, das den Titel Technikzukünfte in der deutschsprachigen Science-Fiction-Literatur trug, hatten sich Teilnehmende des Seminars mit ausgewählten SF-Romanen und -Erzählungen auseinandergesetzt, um z.B. über gesellschaftlich relevante Themen wie digitale Medien, Künstliche Intelligenz und Robotik nachzudenken. Ziel des Seminars war es u.a. eine produktive und interdisziplinäre Dis- kussion über die gesellschaftliche Relevanz von SF-Literatur zu initiieren, indem auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Fachdisziplinen (z. B. Zukunftsforschung, Soziologie etc.) an dem Lehrformat mittels Impulsvorträgen und Gesprächen partizipierten. Das Podiumsgespräch, bei dem die Studentinnen und Studenten in einer Art ‚Bücherschau‘ ihre Fundstücke präsentierten, zeigte deutlich, dass in der modernen SF immer wieder von der schnell voranschreitenden Digitalisierung erzählt wird, die Verfahren zur Verfügung stellt, den Men- schen anhand seiner digitalen Daten zu vermessen und zu manipulieren. Im Mittelpunkt dieser Romane steht, so die Erkenntnis aus der Gesprächsrunde, zugleich immer auch die Frage, welche Möglichkeiten denn bestehen, sich dieser stetigen Überwachung zu entziehen. Zugleich finden sich in aktuellen SF-Veröffentlichungen und SF-Filmen oftmals Beschreibungen einer zukünf- tigen Gesellschaft, in der Androiden (menschenähnliche Robo- ter), die auf die Wünsche und Begierden ihrer jeweiligen Besitzer abgestimmt sind, zum Alltag gehören. Dies hat zur Folge, wie die SF-Literatur aufzeigt, dass die Menschen kaum noch private oder intime Beziehungen zueinander aufbauen und pflegen, da die Maschine alle ihre Bedürfnisse zeitsparend und effizient befriedigt. Wie auch der SF-Autor Sven Haupt, der ebenfalls an dem Podiumsgespräch teilnahm, hervorhob, stellt gerade die SF auch immer wieder die Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Maschine: Was zeichnet den Menschen im Gegensatz zur Maschine eigentlich aus? Was bedeutet eigentlich Menschsein?
In seinem Tagungs-Vortrag Science Fiction als Wirklichkeitsmaschine. Wie ein Literaturgenre unsere Lebenswelt verändert hob der Sachbuchautor Hans Frey (ausgehend von den klassischen Utopien bis hin zur modernen SF) hervor, wie sehr die Zukunftsliteratur sowohl als Unterhaltungsmedium als auch als Spiegel ihrer Zeit fungiert und dabei Themen wie z.B. Raumfahrt, Robotik, Mensch-Maschine-Interaktion, Digitalität und Virtualität reflektiert und initiiert. Dabei sei die SF aufgrund ihrer besonderen Schreibweisen in der Lage, selbst Wirklichkeit zu gestalten, was sich darin zeige, „dass die SF ihre Topoi tatsächlich realisiert oder diese in eine neue, spezifische Ästhetik, die kulturprägend ist, umwandelt. Oft macht sie beides gleichzeitig. Das eine verkörpert sich in der handfesten Materialisierung ihrer Ideen, das andere macht sich fest in einer neuen Sprache, in neuen Symbolen, Metaphern, Stilen und einem bestimmten Ambiente mit typischen dekorativen und ornamentalen Elementen.“
Als literarisches Genre besitzt die SF-Literatur ein großes Repertoire an rhetorischen Mitteln bzw. Schreibweisen, die den Rezipienten die beschriebenen Handlungen und Ereignisse nachvollziehen bzw. am exemplarischen oder exzeptionellen Einzelschicksal mitfühlen lässt. Während die wissenschaftliche Rede rein disziplinär agiert, besitzt die SF-Literatur die elementare Freiheit, alles zur Disposition zu stellen, um z.B. neue Verhaltensweisen, neue zwischenmenschliche Beziehungen, neue Verhältnisse zwischen Mensch und Maschine, neue kulturelle Verhältnisse und Normen, neue politische Systeme etc. zu beschreiben. Dabei besitzt gerade die SF-Literatur die poetische Kraft, vor den Augen des Lesers (zukünftige) Welten zu erschaffen, die uns vollkommen fremdartig anmuten, da sie z.B. allen uns bekannten physikalischen Gesetzmäßigkeiten trotzen und bevölkert sind mit Daseinsformen, deren Existenz wir uns kaum vorstellen können. Dieses imaginäre Wechselspiel von gleichzeitiger Auflösung und Neuordnung der bekannten Welt, das die SF- Literatur seit jeher betreibt, hat einen ganz bestimmten Grund: Indem SF-Literatur auf eindringliche und vereinnahmende Weise (Zukunfts-)Szenarien konstruiert, kann sie diese hypothetischen Wirklichkeiten (ohne Gefahr, ohne verheerende Folgen) experimentell erproben – und so schließlich ein vertieftes Nachdenken ermöglichen. Die Narrative und Imaginationsräume, die die SF-Literatur auszeichnen, dienen somit dazu, Ordnung in die Unordnung der Gegenwart und Zukunft zu bringen, d.h. etwas der Reflexion zugänglich zu machen, über das eigentlich kein Nachdenken möglich scheint, da es sich der Erfahrung entzieht. In unserer Gegenwart, die von Ängsten geprägt ist hinsichtlich der rasanten Entwicklungen sowohl in der Informations- als auch in der Gen- und Nanotechnologie bieten Fiktionen somit eine Form, etwas eigentlich Unvorstellbares aus der Latenz hervorzuholen und in eine greif- und erfahrbare Gestalt zu bringen.
Den Abschluss der Tagung bildete wiederum eine Reise in literarische Gefilde, die diesen Eindruck noch einmal verstärkte: Der promovierte Physiker, freie Journalist und SF-Autor Christian J. Meier las Auszüge aus seinem Tech-Thriller K.I. – Wer das Schicksal programmiert (2019), in dem Formen von Künstlicher Intelligenz alle Lebensbereiche (Arbeit, Fortpflanzung, Pflege, Medizin, Politik) steuern. Dabei stellt der rasante und spannende Roman eine Vielzahl an relevanten Fragen, die mit der Entwicklung von immer stärkeren und effizienteren Algorithmen zusammenhängen: Was wäre, wenn diese algorithmi- schen Prozesse außer Kontrolle geraten? Was wäre, wenn die KIs unsere Daten nicht nur zur reinen Effizienzsteigerung, zur Vorausschau und Hilfestellung sammeln, sondern dazu, unser Verhalten zu bewerten, zu steuern bzw. zu manipulieren? Was wäre, wenn unsere Daten dazu genutzt werden, alle unsere Handlungen nach sogenannten Social Scores zu bewerten? Zudem trug der SF- und Sachbuch-Autor Uwe Post u. a. Auszüge aus seinem Climate-Fiction-Roman Klima-KorrekturKonzern (2022) vor, der die Leser mit viel Humor in ein klimafreundlicheres Deutschland entführt, in dem z. B. Geo-Engineering, Gentechnologie, Bioprinting und Schadstoffreduktion zum Alltag gehören. Im Mittelpunkt der Handlung steht der IT-Nerd Phil, der – nachdem er seine Arbeit bei SaveData verloren hat – als Admin bei einer Firma anheuert, die mittels genmanipulierter Pflanzen die klimatischen Verwerfungen aufhalten möchte. Im Gepäck hatte Uwe Post zudem die erste Ausgabe des Future Fiction Magazine, das sowohl SF-Erzählungen als auch Sekundärtexte enthält. Uwe Post fungiert dabei als Herausgeber des Magazins, das sich zur Devise gemacht hat, eine intensive Spurensuche nach außergewöhnlichen SF-Erzählungen zu be- treiben, um neue Sichtweisen auf zukünftige Entwicklungen zu erschließen. Entsprechend heißt es auch im Vorwort des Maga- zins, dass man den Akzent darauf gesetzt hat, mit dem Magazin „einen vielfältigeren literarischen Blick auf die Zukunft“ zu werfen, indem man SF-Erzählungen aus allen Ländern der Erde ver- öffentlicht, „die abseits ausgetretener Wege frische Blicke in die Zukunft werfen und uns Lesern bisher unbekannte Perspektiven bieten. […] Der Fokus der Future Fiction liegt auf glaubwürdigen Geschichten von Morgen, also aus der nahen Zukunft, die statt zynischer Dystopien oder farbenfroher Weltraumgefechte Möglichkeiten unseres Zusammenlebens und unserer Entwicklung aufzeigen, sei es im Hinblick auf Klima, Verkehr oder Gesellschaft.“
Die Lust am Gedankenspiel
Doch das Gegenteil ist der Fall, wie auch Markus Tillmann von der RUB im Einführungsvortrag hervorhob: Eine intensive Auseinandersetzung mit den Technikdiskursen, die in der SF aufscheinen, kann ein produktives Nachdenken über z.B. mögliche Zukünfte initiieren. Indem die SF u.a. die Beschleunigung unserer Lebenswelt – die durch den rasanten technologischen Fortschritt hervorgerufen wird – immer wieder reflektiert und hinterfragt, kann sie auf sehr anschauliche Art und Weise davon erzählen, welche gesellschaftlichen Auswirkungen der technologische Wandel auf die Menschheit haben könnte. Schon frühzeitig erzählt die SF davon, wie der rasante technologische Fortschritt unsere ganze Wahrnehmungs- und Daseinsweise tiefgreifend verändern könnte. Sie berichtet nicht nur von interstellaren Reisen und Außerirdischen, sondern auch davon, wie die Grenzen zwischen Realität und Virtualität, Mensch und Ma- schine immer stärker zu verschwimmen drohen. Sie beschreibt, wie die Kommunikations- und Informationstechnologien un- sere Welt immer stärker um eine Vielzahl virtueller Räume erweitern. Sie handelt davon; wie moderne Biotechnologien die Möglichkeit erzeugen, in unsere Umwelt einzugreifen und auch den menschlichen Körper tiefgreifend zu modifizieren bzw. zu optimieren. Sie entwirft zukünftige Gesellschaften, in der Künstliche Intelligenzen alle Lebensbereiche durchdringen, indem sie unsere Daten sammeln, speichern und auswerten. Sie entwirft zukünftige Körpertechnologien, die u.a. dazu dienen, die menschlichen Möglichkeiten zu erweitern und die menschliche Leistungsfähigkeit zu steigern. Alle diese Motive und Themen finden wir in der heutigen SF, oftmals vorgeprägt in frühen Zukunftsromanen und -erzählungen.Dabei überwiegt in der SF zumeist die Lust am Gedanken- spiel, am Durchprobieren neuer Möglichkeiten und an der Eröffnung neuer Möglichkeitsräume: Man könnte von einer „Was wäre wenn“-Perspektive der SF sprechen, d.h. sie operiert mit dem Antagonismus von Wirklichem und Möglichem. Gerade die in der modernen SF-Literatur entworfenen Imaginationsräume regen ganz bewusst und gezielt dazu an, über derzeitige technologische Entwicklungen und deren Folgewirkungen nachzudenken. Dies zeigte auch eine Gesprächsrunde mit Studentinnen und Studenten der RUB, die im direkten An- schluss an den Einleitungsvortrag den Einstieg in die Tagung bildete: Im Rahmen eines zweisemestrigen Hauptseminars, das den Titel Technikzukünfte in der deutschsprachigen Science-Fiction-Literatur trug, hatten sich Teilnehmende des Seminars mit ausgewählten SF-Romanen und -Erzählungen auseinandergesetzt, um z.B. über gesellschaftlich relevante Themen wie digitale Medien, Künstliche Intelligenz und Robotik nachzudenken. Ziel des Seminars war es u.a. eine produktive und interdisziplinäre Dis- kussion über die gesellschaftliche Relevanz von SF-Literatur zu initiieren, indem auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Fachdisziplinen (z. B. Zukunftsforschung, Soziologie etc.) an dem Lehrformat mittels Impulsvorträgen und Gesprächen partizipierten. Das Podiumsgespräch, bei dem die Studentinnen und Studenten in einer Art ‚Bücherschau‘ ihre Fundstücke präsentierten, zeigte deutlich, dass in der modernen SF immer wieder von der schnell voranschreitenden Digitalisierung erzählt wird, die Verfahren zur Verfügung stellt, den Men- schen anhand seiner digitalen Daten zu vermessen und zu manipulieren. Im Mittelpunkt dieser Romane steht, so die Erkenntnis aus der Gesprächsrunde, zugleich immer auch die Frage, welche Möglichkeiten denn bestehen, sich dieser stetigen Überwachung zu entziehen. Zugleich finden sich in aktuellen SF-Veröffentlichungen und SF-Filmen oftmals Beschreibungen einer zukünf- tigen Gesellschaft, in der Androiden (menschenähnliche Robo- ter), die auf die Wünsche und Begierden ihrer jeweiligen Besitzer abgestimmt sind, zum Alltag gehören. Dies hat zur Folge, wie die SF-Literatur aufzeigt, dass die Menschen kaum noch private oder intime Beziehungen zueinander aufbauen und pflegen, da die Maschine alle ihre Bedürfnisse zeitsparend und effizient befriedigt. Wie auch der SF-Autor Sven Haupt, der ebenfalls an dem Podiumsgespräch teilnahm, hervorhob, stellt gerade die SF auch immer wieder die Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Maschine: Was zeichnet den Menschen im Gegensatz zur Maschine eigentlich aus? Was bedeutet eigentlich Menschsein?
Wie Science Fiction unsere Lebenswelt verändert
Dabei kann die SF auch als Impuls- und Stichwortgeber für technologische Entwicklungen fungieren, wie z.B. folgendes (sehr aktuelles Beispiel) auf eindrucksvolle Weise zeigt: 1992 veröf- fentlicht der amerikanische Autor Neal Stephenson seinen Roman Snow Crash, in dem er eine virtuelle Realität beschreibt, die den Namen „Metaverse“ bzw. „Metaversum“ trägt und die dicht besiedelt ist mit sogenannten Avataren. Der Begriff Avatar wird heute ganz selbstverständlich als Bezeichnung für eine künstliche Person oder eine Grafikfigur, die einem Internetbenutzer in der virtuellen Welt zugeordnet wird, benutzt. Erst vor kurzer Zeit hat Facebook-Chef Mark Zuckerberg sein Unternehmen in „Meta“ umbenannt und das „Metaversum“ zum „nächsten Kapitel des Internets“ erklärt. Dabei scheint es keine Rolle zu spielen, dass Stephenson in seinem Roman eine sehr düstere, anarcho- kapitalistische Zukunftswelt schildert, die nicht lebenswert erscheint, da in ihr z.B. Hyperinflation und soziale Ungleichheit herrschen. Der Staat hat sich in Stephensons Roman vollständig als Ordnungsmacht verabschiedet und alle notwendigen gesellschaftlichen Funktionen an Privatunternehmen ausgelagert, was dazu führt, dass sich viele Menschen in virtuelle Welten flüchten…In seinem Tagungs-Vortrag Science Fiction als Wirklichkeitsmaschine. Wie ein Literaturgenre unsere Lebenswelt verändert hob der Sachbuchautor Hans Frey (ausgehend von den klassischen Utopien bis hin zur modernen SF) hervor, wie sehr die Zukunftsliteratur sowohl als Unterhaltungsmedium als auch als Spiegel ihrer Zeit fungiert und dabei Themen wie z.B. Raumfahrt, Robotik, Mensch-Maschine-Interaktion, Digitalität und Virtualität reflektiert und initiiert. Dabei sei die SF aufgrund ihrer besonderen Schreibweisen in der Lage, selbst Wirklichkeit zu gestalten, was sich darin zeige, „dass die SF ihre Topoi tatsächlich realisiert oder diese in eine neue, spezifische Ästhetik, die kulturprägend ist, umwandelt. Oft macht sie beides gleichzeitig. Das eine verkörpert sich in der handfesten Materialisierung ihrer Ideen, das andere macht sich fest in einer neuen Sprache, in neuen Symbolen, Metaphern, Stilen und einem bestimmten Ambiente mit typischen dekorativen und ornamentalen Elementen.“
Wie lässt sich heutzutage noch eine Utopie schreiben?
Dass die SF nicht nur dystopisches Potential besitzt und damit eine reine Warnfunktion ausübt, die uns aufzeigt, welche Gefahren z.B. in der Entwicklung von Künstlichen Intelligenzen (KI) liegen, zeigte auch die Lesung von Theresa Hannig, die auf der Tagung aus ihrem gerade erschienenen Roman Pantopia (2022) vortrug. Aber lassen sich positive Gegenentwürfe zu den vorherrschenden gesellschaftlichen Zuständen überhaupt noch literarisch gestalten? In ihrer Near-Future-Dystopie Die Optimierer (2017) hat Theresa Hannig noch explizit davon erzählt, wie moderne Technologien dazu genutzt werden können, ein technokratisches Überwachungssystem zu etablieren, das den Menschen gezielt vorgaukelt, zu ihrem Gunsten zu agieren, schlussendlich ihnen aber Individualismus, Freiheiten und Rechte raubt. Dagegen ist ihr neuer Roman Pantopia von einem utopischen Impuls getrieben, der danach fragt, wie die Welt von morgen (auf Grundlage dessen, was heute schon im Bereich der Möglichkeiten liegt) auch besser gestaltet werden könnte: Hannig berichtet von dem Entstehen der zukünftigen Weltrepublik Pantopia, in der das gesellschaftliche Leben nachhaltiger und weniger zerstörerisch gestaltet ist. Im Mittelpunkt der Handlung steht dabei eine humane KI namens Einbug, die zum Wohl der Menschheit agiert und ihr dabei hilft, eine bessere Gesellschaftsform zu entwickeln und aufzubauen. Dabei liegen alle Möglichkeiten, eine bessere Zukunft zu gestalten, schon vor, und die zu Bewusstsein erwachte KI Einbug wirkt nur als Stichwort- bzw. Impulsgeber für die notwendigen Schritte beim Aufbau von Pantopia: Entwicklung eines perfekten Kapitalismus mit vollständiger Transparenz, Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens, Auflösung von Staaten, Abschaffung des Krieges etc. Nach und nach werden immer mehr Menschen zu sogenannten „Archen“ (Mitgliedern von Pantopia), die – auch wenn der Weg mühselig und von vielen Aufständen geprägt ist – dazu beitragen, das Pantopia endlich Wirklichkeit wird.SF als Ideenpool für die Zukunftsforschung?
Hannigs Roman ist nur ein Beispiel dafür, warum u.a. die Zukunftsforschung, d.h. die systematische und kritische wissenschaftliche Untersuchung von Fragen möglicher zukünftiger Entwicklungen auf technischem, wirtschaftlichem und sozialem Gebiet, starkes Interesse an der Science Fiction hegt: Die SF bietet ein großes Ideenreservoir, ein konstruktives Zukunftsdenken zu initiieren und zu fördern. Schon in dem Werk Futurologie. Der Kampf um die Zukunft von 1970 schreibt Ossip K. Flechtheim der SF-Literatur eine intuitive Kraft zu, bei der sich „Erfahrung und Sachinformation, vermischt mit möglichst genialer Phantasie, zur Projektion oder Prognose verdichtet.“ (Flechtheim 1970, S. 127) Man mag Probleme mit dem Begriff der Prognose haben, den Flechtheim hier anführt, fest steht aber, dass sich die Zukunftsforschung schon immer und außergewöhnlich frühzeitig mit SF-Literatur beschäftigt hat und die dort aufscheinenden narrativen Szenarien und Diskurse als etwas ansieht, das ein innovatives, vielleicht auch freieres Nachdenken über zukünftige Entwicklungen ermöglicht. Dies zeigte auch der Vortrag Streifzüge ins Ungewisse. Szenarien in Zukunftsforschung und Science Fiction des Zukunftsforschers und SF-Autors Karlheinz Steinmüller: Dabei scheinen sich gerade in der sogenannten Szenario-Technik, die Steinmüller in den Mittelpunkt seines Vortrags stellte, wissenschaftliche und literarische Arbeit auf ganz besondere Art und Weise zu durchdringen. Diese spezielle Technik dient in der Zukunftsforschung zumeist dazu, vorhandenes Wissen zunächst übersichtlich und strukturiert anhand von normativen und explorativen Szenarien zu ordnen, um zukünftige Entwicklungsmöglichkeiten darzustellen und in die Entscheidungsprozesse von Wirtschaft, Zivilgesellschaft oder Politik einzubringen. Um die Szenarien möglichst konkret und bildhaft auszuformulieren, so Steinmüller, können dabei auch Formen der Literarisierung (narrative Szenarien), d.h. erzählerische Darstellungsformen mit handelnden Personen eine große und entscheidende Rolle spielen. Dabei treten dann z.B. die Handlungslogik bzw. der Spannungsaufbau und die handelnden Personen sowie ihre Motive und Emotionen hervor. Dergestalt kann auch die SF-Literatur, indem sie fiktive Welten entwirft und dabei eine ganz eigene intuitive Kraft entwickelt, der Zukunftsforschung Impulse geben und neue Fragen aufwerfen: Was ist möglich, wahrscheinlich? Was sind plausible Wirkungen? Was ist wünschbar? Zudem können sich narrative Szenarien auch einer sogenannten „Wild Card“ bedienen, um z.B. eher unwahrscheinliche oder weniger plauibel erscheinende Möglichkeiten auch zur Sprache zu bringen und in den Zukunftsdiskurs einzuspeisen. Im direkten Anschluss an Steinmüllers Vortrag hob die Literaturwissenschaftlerin und Zukunftsforscherin Klaudia Seibel in ihren Ausführungen mit dem Titel Ideen für die Zukunft lesen. Science Fiction als diskusiver Ideenpool für die Zukunftsgestaltung gerade die imaginative, extrapolative, spekulative und narrative Kraft der SF-Literatur hervor. Schon in dem zur Tagung erscheinenden Heft konstatiert Seibel, dass sich SF „spekulativ in den Diskurs der Zukunftsvorstellungen“ einschreibt, in der literarischen Form jedoch mehr Möglichkeiten als wissenschaft- liche Texte habe: „Nicht nur ist sie als Kunstform freier in dem, was sie sagen kann; durch die Wahl des spekulativen Modus löst sie sich auch von der Beschränkung auf das Wahrscheinliche und unterscheidet sich darin von prognostischen Ansätzen oder Trendforschung.“ Dies macht sich auch, wie Seibel in ihrem Vortrag aufzeigte, das an der Phantastischen Bibliothek Wetzlar ansässige Projekt Future Life. We read the Future zunutze, das primär dazu dient, Ideen aus der SF zu sichten und zu ordnen. Dabei werden die aufgefundenen Einzelszenarien zu thematisch orien- tierten und übergeordneten Szenarien verknüpft, um diese wiederum für z. B. für Produktideen, Technikfolgeabschätzungen und Innovationsprozesse zu nutzen. Konkret heißt das, „dass das ‚Future-Life‘-Team auf ein bestimmtes Zukunftsthema hin die Science-Fiction-Texte aus dem Fundus der Phantastischen Bibliothek durchsieht, relevante Fundstellen erfasst, verschlagwortet und die Ideencluster zu Szenarien möglicher Zukünfte zusammenfasst.“ Dass die Mitarbeiter des „Future Life“-Projekts dabei auf einen Bibliotheksbestand von ca. 100.000 SF-Büchern zurückgreifen können, mag jedem fanatischen SF-Leser wie die Verwirklichung eines kaum vorstellbaren Traumreichs erscheinen…Was bleibt?
Welche Bedeutungen kann die SF bekommen, wenn es darum geht, über mögliche zukünftige Entwicklungen nachzudenken? Die Vorträge und Lesungen der Tagung machten mehr als deutlich, dass die literarische Rede – im Gegensatz zu den Entwürfen rein wissenschaftlicher Szenarien – die einzigartige Kraft besitzt, eine Vielzahl an (möglichen) Zukunftsentwürfen zu erschaffen und mit Affekten und Perzepten aufzuladen. Indem die SF ein Narrativ ausbildet, dass die Folgen technologischer Entwicklungen an Einzelschicksalen bzw. an subjektiven Wahrnehmungen bindet, bringt sie etwas zur Sprache, das den wissenschaftlichen Ausführungen entgeht bzw. von Ihnen verdrängt wird.Als literarisches Genre besitzt die SF-Literatur ein großes Repertoire an rhetorischen Mitteln bzw. Schreibweisen, die den Rezipienten die beschriebenen Handlungen und Ereignisse nachvollziehen bzw. am exemplarischen oder exzeptionellen Einzelschicksal mitfühlen lässt. Während die wissenschaftliche Rede rein disziplinär agiert, besitzt die SF-Literatur die elementare Freiheit, alles zur Disposition zu stellen, um z.B. neue Verhaltensweisen, neue zwischenmenschliche Beziehungen, neue Verhältnisse zwischen Mensch und Maschine, neue kulturelle Verhältnisse und Normen, neue politische Systeme etc. zu beschreiben. Dabei besitzt gerade die SF-Literatur die poetische Kraft, vor den Augen des Lesers (zukünftige) Welten zu erschaffen, die uns vollkommen fremdartig anmuten, da sie z.B. allen uns bekannten physikalischen Gesetzmäßigkeiten trotzen und bevölkert sind mit Daseinsformen, deren Existenz wir uns kaum vorstellen können. Dieses imaginäre Wechselspiel von gleichzeitiger Auflösung und Neuordnung der bekannten Welt, das die SF- Literatur seit jeher betreibt, hat einen ganz bestimmten Grund: Indem SF-Literatur auf eindringliche und vereinnahmende Weise (Zukunfts-)Szenarien konstruiert, kann sie diese hypothetischen Wirklichkeiten (ohne Gefahr, ohne verheerende Folgen) experimentell erproben – und so schließlich ein vertieftes Nachdenken ermöglichen. Die Narrative und Imaginationsräume, die die SF-Literatur auszeichnen, dienen somit dazu, Ordnung in die Unordnung der Gegenwart und Zukunft zu bringen, d.h. etwas der Reflexion zugänglich zu machen, über das eigentlich kein Nachdenken möglich scheint, da es sich der Erfahrung entzieht. In unserer Gegenwart, die von Ängsten geprägt ist hinsichtlich der rasanten Entwicklungen sowohl in der Informations- als auch in der Gen- und Nanotechnologie bieten Fiktionen somit eine Form, etwas eigentlich Unvorstellbares aus der Latenz hervorzuholen und in eine greif- und erfahrbare Gestalt zu bringen.
Den Abschluss der Tagung bildete wiederum eine Reise in literarische Gefilde, die diesen Eindruck noch einmal verstärkte: Der promovierte Physiker, freie Journalist und SF-Autor Christian J. Meier las Auszüge aus seinem Tech-Thriller K.I. – Wer das Schicksal programmiert (2019), in dem Formen von Künstlicher Intelligenz alle Lebensbereiche (Arbeit, Fortpflanzung, Pflege, Medizin, Politik) steuern. Dabei stellt der rasante und spannende Roman eine Vielzahl an relevanten Fragen, die mit der Entwicklung von immer stärkeren und effizienteren Algorithmen zusammenhängen: Was wäre, wenn diese algorithmi- schen Prozesse außer Kontrolle geraten? Was wäre, wenn die KIs unsere Daten nicht nur zur reinen Effizienzsteigerung, zur Vorausschau und Hilfestellung sammeln, sondern dazu, unser Verhalten zu bewerten, zu steuern bzw. zu manipulieren? Was wäre, wenn unsere Daten dazu genutzt werden, alle unsere Handlungen nach sogenannten Social Scores zu bewerten? Zudem trug der SF- und Sachbuch-Autor Uwe Post u. a. Auszüge aus seinem Climate-Fiction-Roman Klima-KorrekturKonzern (2022) vor, der die Leser mit viel Humor in ein klimafreundlicheres Deutschland entführt, in dem z. B. Geo-Engineering, Gentechnologie, Bioprinting und Schadstoffreduktion zum Alltag gehören. Im Mittelpunkt der Handlung steht der IT-Nerd Phil, der – nachdem er seine Arbeit bei SaveData verloren hat – als Admin bei einer Firma anheuert, die mittels genmanipulierter Pflanzen die klimatischen Verwerfungen aufhalten möchte. Im Gepäck hatte Uwe Post zudem die erste Ausgabe des Future Fiction Magazine, das sowohl SF-Erzählungen als auch Sekundärtexte enthält. Uwe Post fungiert dabei als Herausgeber des Magazins, das sich zur Devise gemacht hat, eine intensive Spurensuche nach außergewöhnlichen SF-Erzählungen zu be- treiben, um neue Sichtweisen auf zukünftige Entwicklungen zu erschließen. Entsprechend heißt es auch im Vorwort des Maga- zins, dass man den Akzent darauf gesetzt hat, mit dem Magazin „einen vielfältigeren literarischen Blick auf die Zukunft“ zu werfen, indem man SF-Erzählungen aus allen Ländern der Erde ver- öffentlicht, „die abseits ausgetretener Wege frische Blicke in die Zukunft werfen und uns Lesern bisher unbekannte Perspektiven bieten. […] Der Fokus der Future Fiction liegt auf glaubwürdigen Geschichten von Morgen, also aus der nahen Zukunft, die statt zynischer Dystopien oder farbenfroher Weltraumgefechte Möglichkeiten unseres Zusammenlebens und unserer Entwicklung aufzeigen, sei es im Hinblick auf Klima, Verkehr oder Gesellschaft.“
